Der Zauber der Musik der Nacht
Mitternacht war längst vorüber. Das blasse Licht des Mondes spiegelte sich in den Pfützen, die das Unwetter auf dem holprigen Pflaster der Rue Scribe hinterlassen hatte. Hinter den hohen Fenstern der alten Bürgerhäuser war es dunkel und still, nur ab und zu ertönte aus der Schenke der nahe gelegenen Rue Auber das trunkene Gelächter der letzten Gäste der Pariser Oper, die sich den Schrecken der vergangenen Nacht aus der Seele zu spülen suchten.
Niemand - abgesehen vielleicht von den Ratten, die in den immer noch herumliegenden Resten des Bauschutts hausten - sah die in ein dunkles Cape gehüllte Gestalt, die sich im Schatten der imposanten Seitenfassade des Palais Garnier an der Mauer entlang tastete. Hin und wieder blieb sie stehen und warf aus der Geborgenheit der Kapuze, die ihr Gesicht fast völlig verbarg, einen gehetzten Blick um sich. Doch die Straße blieb ruhig. Nur der Nachtwind raschelte in den Blättern der letzten, uralten Bäume, die dem Neubau der Oper nicht zum Opfer gefallen waren.
Die geheimnisvolle Gestalt schien ihr Ziel erreicht zu haben; sie verharrte, sah sich ein letztes Mal nach allen Seiten um und verschwand dann in einer unscheinbaren Nische, die von der Straße aus kaum zu bemerken war.
Vollkommene Dunkelheit umhüllte sie, als die Pforte hinter ihr ins Schloß fiel. Finsternis. Stille. Sicherheit. Sie wußte, was sie zu tun hatte. Unsichere Finger glitten an der Wand entlang, bis sie fanden, wonach sie gesucht hatten. Das sanfte Licht der Gaslaterne fiel auf die feingliedrigen Hände, die jetzt die Kapuze abstreiften. Blondes Haar, im Nacken zu einem hastigen Knoten zusammen geschlungen, umrahmte das blasse Gesicht, in dem die angstvollen Augen von tiefen Schatten gezeichnet waren.
Christine lehnte sich an die Pforte und atmete tief durch. Sie konnte kaum fassen, daß sie es tat sächlich gewagt hatte, hierher zurückzukehren. Die Ereignisse der vergangenen Nacht wirbelten noch immer in ihrem Geist durcheinander und drohten ihr den letzten Rest an Verstand zu rau ben. Nichts wäre ihr lieber gewesen, als sich für den Rest ihres Lebens in den schützenden Mantel von Raouls Liebe zu verkriechen. Aber sie KONNTE es nicht mehr!
Irgendwann während der irrwitzigen Flucht aus dem Reich des Phantoms der Oper, während die rachelüsternen Stimmen seiner Verfolger noch in ihren Ohren gellten, hatte sie die Hülle des furchtsamen, schwärmerischen Kindes abgestreift und sich den Gefühlen gestellt, die dieser seltsame Mann in ihr zu wecken verstand. Was sie in sich entdeckte, erschreckte sie zutiefst. Doch mehr noch fürchtete sie, was SIE ihm antun würden, wenn er in ihre Hände fiele.
Am liebsten wäre sie auf der Stelle umgekehrt, um an seiner Seite der Meute gegenüberzutreten. Ein Blick auf Raouls besorgtes, liebevolles Gesicht brachte sie jedoch zur Besinnung. Wie konnte sie ihn derart verletzen, wo er doch bereit gewesen war, für sie sein Leben aufs Spiel zu setzen. Wie so oft schon in ihrem Leben fühlte sie, wie ihr die Entscheidung aus der Hand genommen wurde.
Im Stillen schwor sie sich, daß es das letzte Mal sein sollte.
So blieb sie also im Boot sitzen und ließ sich von der tröstlich beruhigenden Gegenwart Raouls ans andere Ufer des unterirdischen Sees geleiten - in Sicherheit. Sicherheit? Als ob sie sich jemals im Leben wieder sicher fühlen könnte, wo sie doch genau wußte, daß eine verführerische Stimme sie jede Nacht bis in ihre Träume verfolgen würde.
Die nachfolgenden Ereignisse ließen ihre keine Zeit, zur Besinnung zu kommen. Aufgeregte Menschen umringten sie, bestürmten sie mit Fragen, quälten mit sensationslüsternen Blicken, bis Raoul sie der Menge entzog und in die stille Geborgenheit seines Stadtpalais entführte, nachdem die Polizei ihnen das Versprechen abgenommen hatte, am nächsten Tag Rede und Antwort zu stehen.
Wenigstens erfuhr sie noch, daß sich das Phantom wieder einmal s gerechten Strafe hatte entziehen können. Man erklärte ihr verlegen, daß nur die Maske gefunden worden sei, man je doch nichts unversucht lassen würde, ihren Peiniger dingfest zu machen.
Dem Polizeichef entging das Aufleuchten ihrer Augen, als sie von der Flucht des Phantoms hörte; Raoul jedoch bemerkte es, und es zerriß ihm das Herz. Er gelobte sich, alles zu tun, um Christine dem unheimlichen Einfluß dieses Monsters zu entziehen. Seine Liebe und Geduld würden ihr helfen, den Alptraum der vergangenen Monate zu vergessen, wenn er sie erst einmal aus der Stadt
gebracht hatte. Christine indessen dachte nicht daran, sich ein weiteres Mal die Entscheidung aus der Hand nehmen zu lassen.
Scheinbar mit allem einverstanden, entschuldigte sie sich und zog sich in das Gästezimmer zurück, das man für sie vorbereitet hatte. Sie brauchte Ruhe, um ihre verwirrten Gedanken zu ordnen und sich darüber zu wer was mit ihr geschehen war.
Bereits eine Stunde später erhob sie sich wieder von dem Bett, in dem sie sich ruhelos hin- und hergewälzt hatte. Es war zwecklos. Jeder vernünftige Gedanke wurde durch die Flut der Gefühle ausgelöscht, die sie durch. sobald sie an Erik dachte. Wenn sie die Augen schloß, spürte sie wieder den Kuß auf ihren Lippen und schmeckte das Salz seiner Tränen. Er hatte nicht gewagt, sie zu berühren, als sie sich mit dem Mut der Verzweiflung an seine Brust warf, zu ALLEM entschlossen in diesem Augenblick, doch sie kannte seine Kraft...
Die Erinnerung daran, wie er sie auf keinen Armen in sein unterirdisches Versteck getragen hat te, mühelos, als sei sie eine gewichtslose Puppe, jagte ihr Schauer atemloser Erregung über die Haut. Der Klang seiner Stimme lebte in ihrem Herzen, lockte sie, betörte sie, rief nach ihr. Wie sollte sie diesem Ruf widerstehen?
Und doch hatte er sie fortgeschickt, damit sie an der Seite Raouls ihr Glück fände. Raoul... er verdiente soviel mehr, als sie ihm geben konnte. Sie war nicht mehr das arglose “Lottchen“, das in atemloser Bewunderung zu ihm auf blickte. Das Phantom hatte sie berührt und eine dunkle Seite in ihr erklingen lassen, von der sie nicht einmal wußte, daß sie in ihr war. Ein Teil von ihr liebte Raoul leidenschaftlich, sehnte sich auch jetzt noch nach dem ruhigen Glück, das nur er ihr schenken konnte.
Doch es war zu spät. Wenn sie jetzt mit Raoul fort ging, würde sie sich ein Leben lang nach Eriks düsterer Leidenschaft sehnen...
Ruhelos wanderte Christine im Zimmer auf und ab, unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Konnte sie es überhaupt wagen, zu Erik zurückzukehren? Was für ein Dasein erwartete sie an seiner Seite? Sollte sie den Rest ihres Lebens in den Kellern der Pariser Oper verbringen? War sie überhaupt stark genug, der elementaren Kraft seiner Gefühle zu begegnen? Würde sie ihm trotzen können, wenn die dunkle Seite von ihm Besitz ergriff?
Sie wußte nur eines mit Bestimmtheit: Das Phantom der Oper liebte sie, wie sie noch nie geliebt worden war und vermutlich auch nie wieder geliebt werden würde. Nur diese Liebe hatte ihm die Kraft verliehen, Raoul zu schonen und sie freizugeben.
Christine unterbrach ihre Wanderung und trat vor den Spiegel. Kritisch musterte sie ihr Gesicht, als wolle sie sich davon überzeugen, daß sie noch dieselbe war. Die wilde Haarmähne, die blasse Haut, die unnatürlich glänzenden Augen, der entschlossene Zug um die fein gezeichneten Lippen... war denn dies wirklich das scheue kleine Chormädchen, das sein Leben lang den Anweisungen seines Vaters und später denen des mysteriösen “Engels der Lieder“ gefolgt war?
Christine blickte um sich und nahm zum ersten Mal wirklich Einzelheiten des Zimmers wahr. Die fein geschnitzten Möbel mit ihren üppigen Seidenpolstern, die schweren Vorhänge, die weichen Teppiche, die in sanften Farben des Muster der Wandbespannung unterstrichen, die goldenen Rahmen der Spiegel und Bilder, die verschwenderische Fülle der liebevoll zusammengestellten Nippesfiguren; sie alle schienen ihr zuzuflüstern: “Komm, nimm uns in Besitz, du könntest hier zu Hause sein...“
Einen Moment lang zögerte sie und lauschte dem Lockruf des leichten Weges. Ein Wort genügte, und sie würde sich niemals mehr im Leben über irgendetwas Gedanken machen müssen. Auf der anderen Seite warteten Unsicherheit, Angst, Gefahr ... und Erik! Christine traf ihre Wahl. Sie ergriff das Cape, das sie achtlos über einen Sessel geworfen hatte - wie sehr es sie an Eriks Umhang erinnerte - und schlich sich aus dem Haus. Noch niemals in ihrem Leben hatte sie sich so gefürchtet, aber diesmal war sie entschlossen, sich ihrer Furcht zu stellen. Während sie durch die nachtdunklen Gassen zur Rue Scribe hastete, umklammerten ihre Finger den Schlüssel, den Erik ihr einmal anvertraut hatte. Er paßte zu einer verborgenen Pforte, die von der Straße her zu seinem Reich führte. Glücklicherweise hatte sie diesen Schlüssel bei sich getragen, denn sie hüfte
es wohl selbst zu dieser Stunde nicht gewagt, die Oper auf die übliche Weise zu betreten. Vermutlich stöberten noch immer Polizisten dort herum.
Jenseits der geheimnisvollen Tür hob Christine die Gaslampe in die Höhe und versuchte, sich zurechtzufinden. In diesem Teil der Oper war sie erst einmal gewesen, als Erik ihr den geheimen Zugang gezeigt hatte. Diese Treppe dort links mußte hinauf zu den Quartieren der Ballettmädchen führen und zu den Übungssälen der Chorsänger. Von dieser Seite war sie noch nie dort hinaufgelangt, aber Erik hatte diesen Zugang benutzt, um allabendlich ihrem Gesang bei der Probe zu lauschen. Sie leuchtete in die andere Richtung. Dumpfe Geräusche aus der Ferne deuteten auf die Nähe der Hallen hin, in denen die immense technische Ausstattung der Maschinerie der Oper verborgen war. Nicht weit dahinter führte eine verborgene Stiege hinab zu den Kalksteinbrüchen, auf denen das Fundament der Oper ruhte. Jetzt dienten sie als Lagerstätten für ausrangierte Requisiten und wurden nur noch selten aufgesucht. Dort lag der unterirdische See; dort begann das Reich des Phantoms der Oper.
Christine lauschte ängstlich, doch abgesehen von dem entfernten Dröhnen der Maschinerie drang kein Laut an ihr Ohr. Vielleicht hatte man die Polizeiposten inzwischen abgezogen.
Nichtsdestoweniger blieb sie auf der Hut, während sie durch die einsamen Gewölbe schlich, auf der Suche nach der geheimen Treppe in die Tiefe. Wo mochte Erik sich verborgen haben? Wie sollte sie über den See gelangen, wenn das Boot nicht da war? Sie konnte sich nicht mehr erinnern, ob Raoul es auf die glatte Wasseroberfläche zurückgestoßen hatte. Mit zitternden Händen suchte sie sich einen Weg durch die von den Verfolgern durcheinander geworfenen Requisiten. Fabelwesen starrten sie aus blicklosen Glasaugen an, mehr als einmal stolperte sie über umgestürzte Säulen oder verfing ihre Röcke in den ausgestreckten Händen halbzerbrochener Statuen.
Das geheimnisvolle Halbdunkel verlieh den vertrauten Versatzstücken der Theaterwelt eine mystische Realität, die sie halb erschreckte, halb faszinierte. Am Ufer des Sees angekommen, atmete sie erleichtert auf. Das Boot schaukelte sacht und einladend an den Stufen, die hinab in die unergründliche Tiefe führten. Es schien auf sie zu warten. Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie. Noch konnte sie zurück; doch wenn sie die andere Seite des Ufers betrat, würde sie die Schwelle unwiderruflich überschritten haben.
Christine raffte ihre Röcke zusammen und bestieg das Boot. Bevor sie die Hand nach dem Paddel ausstrecken konnte, setzte ein verborgener Mechanismus ihr Gefährt in Bewegung und zog den Nachen wie mit Zauberhand über das Wasser. Nebel stieg auf und verbarg den Verlauf ihrer Reise vor ihren Augen, bis das diffuse Licht der großen Kandelaber das andere Ufer ankündigte. Totenstille empfing sie. Nichts deutete daraufhin, daß die Polizei bis hierhin vorgedrungen war. Liebevoll strichen ihre Finger über die Tasten der Orgel, die jetzt schwieg, als warte sie auf ihren Meister. Doch das Phantom war verschwunden. Der Raum schien auf unwirkliche Weise wie vor langer Zeit verlassen, so als habe sie alles nur geträumt. Doch auf dem Boden lag der Schleier, den sie sich nach Eriks wahnwitzigem Wutausbruch aus dem Haar gerissen und von sich geschleudert hatte. Sie hob ihn auf und legte das zarte Gewebe für einen Augenblick an ihre Wange, bevor sie es behutsam glättete und über den grotesk verrenkten Körper der Puppe breitete, die ihr Ebenbild war.
Sie wollte nach ihm rufen, den tröstlichen Klang seiner betörenden Stimme hören, als ihr bewußt wurde, daß sie ihn nie bei seinem Namen genannt hatte. Tränen standen in ihren Augen, als sie sich räusperte und zum ersten mal das Zauberwort flüsterte, das die ganze Zeit in ihrem Herzen gelebt hatte: “Erik...?“
Narren! Ein grausames Lächeln umspielte Eriks Mund, während er durch den Geheimgang eilte, der das unterirdische Gewölbe der Oper mit dem Labyrinth der in die uralten Kalksteinbrüche gehauenen Kanalisation verband.
Für einen Augenblick hielt er inne und warf einen verächtlichen Blick an die mit Spinnweben überzogene Decke, durch die das Geschrei seiner Verfolger nur noch wie ein fernes Echo zu ihm drang. Narren waren sie alle! Wußten sie denn noch immer nicht, daß er jeden Winkel dieses Gebäudes beherrschte? Geister ließen sich nicht fangen! Schließlich war Piangi nicht der erste gewesen, der es mit seinem Leben bezahlen mußte, dem Phantom in die Quere gekommen zu sein.
Und doch war seine Flucht in dieser Nacht nicht mehr als eine instinktive Reaktion auf seine jahrelangen, bitteren Erfahrungen als Gehetzter, der wußte, wann er sich in Sicherheit bringen mußte. Im Grunde kümmerte es ihn nicht mehr, was mit ihm geschah.
Er hatte sie verloren! Niemals wieder würde er ihre Stimme hören, die ihren sanften Keil zwischen ihn und die Enttäuschungen dieser Welt geschoben und den zerstörerischen Panzer aus Haß aufgebrochen hatte; mit dem er sich vor der Ablehnung der Menschen schützte. Christine! Blasser Engel, der im Augenblick der größten Angst die Hand nach ihm ausgestreckt und ihn geküßt hatte aus eigenem, freien Willen! Das plötzliche Sich bewußtwerden seiner zukünftigen Einsamkeit schlug wie eine eiskalte Woge der Qual über ihm zusammen und ließ ihn gegen die Wand des Ganges taumeln.
Mit zitternden Fingern berührte er seine Lippen. Ah, dieser unerträgliche und doch so süße Schmerz! Niemand hatte jemals gewagt, ihn zu küssen, nicht einmal seine Mutter. Er wußte nur zu gut, wie viel Mut es Christine gekostet haben mußte, sich seinem zerstörten Gesicht zu nähern. Und doch war es nicht die verzweifelte Geste eines durch seine wilden Drohungen zu Tode erschreckten Opfers gewesen.
Warm und lebendig hatten ihre Lippen ihm die Antwort auf die sehnsüchtige Frage gegeben, die er niemals zu stellen gewagt hätte. Dies war der Kuß einer liebenden Frau, die soeben bewußt und ungeachtet seiner verzweifelten Raserei ihre Entscheidung getroffen hatte - für IHN! Ja, war er denn wahnsinnig geworden, sie mit diesem jun gen Gecken fortzuschicken, der bestimmt nichts Eiligeres zu tun hatte, als sie für immer aus seinem Einflußbereich zu entfernen?! Auf dem Höhepunkt seines Triumphes hatte er sich selbst den Todesstoß versetzt, … um ihretwillen.
Erik rutschte an der Wand herunter zu Boden und weinte; weinte bittere Tränen um alle Möglichkeiten, die die Pest seiner Fratze ihm versagt hatte. Der Kummer drohte ihn zu ersticken. Schließlich richtete er sich auf, raffte den Rest seiner Würde zusammen und beschloß, umzukehren. Es blieb ihm nur noch eines zu tun. Langsam, mit tödlicher Ruhe, trat er den Rückweg an, um die Welt vom Gespenst des Phantoms der Oper zu befreien.
“Erik... Erik!“ Christines Stimme wurde drängender, gewann an Kraft. Schließlich schrie sie seinen Namen heraus, stellte sich der Stille entgegen. die sie wahnsinnig zu machen drohte. Eine geheime Furcht breitete sich in ihr aus, wurde stärker, bis die Ungeheuerlichkeit der Vision ihr den Atem raubte. Sie fühlte seinen Tod! Völlig kopflos vor panischer Angst lief sie in seinem Zimmer hin und her, bis ihr Blick auf die Orgel fiel.
Mit fliegenden Fingern durchwühlte sie die Noten, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte. Leidenschaftlich fordernd und sehnsüchtig zugleich erklang das Hauptthema seines Meisterwerkes. Christine ließ alles, was sie jemals für das Phantom gefühlt hatte, durch ihre Hände in die Tasten gleiten. Sie öffnete sich seiner abgrundtiefen Leidenschaft, die in ihrer Seele ihr Echo fand. Seine Musik drang in sie, eroberte sie und vereinigte sich mit dem Grundthema ihrer eigenen Gefühle zu einer triumphierenden Kadenz. Was jetzt erklang, war nicht mehr allein das Werk des Phantoms der Oper: Sie verschmolzen miteinander in der Musik der Dunkelheit.
Der letzte Akkord verklang. Völlig erschöpft ließ Christine die Hände von den Tasten gleiten und erhob sich mit zitternden Knien. “Christine...“ der Klang seiner Stimme ließ sie herumfahren. In all seiner magischen Präsenz stand das Phantom der Oper neben dem großen Spiegel, in Hut, Mantel und Maske; ganz so, wie sie ihn das ersten mal gesehen hatte. “Oh, Christine...!“ Die verzweifelte Sehnsucht in seiner Stimme zerriß ihr das Herz. Langsam, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, näherte sie sich ihm und hob die Hände zu seinem Gesicht. Er zuckte zurück und sie konnte fühlen, wie sein Herz raste. Die Angst saß zu tief. Doch Christine ließ sich nicht beirren. Sie nahm ihm den Hut ab und griff nach den Schnüren der Maske. Sanft, unendlich sanft und behutsam löste sie die Maske und musterte teilnahmsvoll sein verwüstetes Gesicht. Tränen rannen über ihre Wangen, doch diesmal galten sie ihm und der Einsamkeit, zu der ihn dieses Schreckbild verdammt hatte. Es kümmerte sie nicht mehr, wie er aussah, nachdem sie die Schönheit seiner Seele jenseits der Mauer aus Wut, Haß und Verbitterung entdeckt hatte, hinter der ihn sein Schicksal gefangen hielt.
Nun galt es, IHN davon zu überzeugen. Was er brauchte, war nicht ihr Mitleid Christine trat zur Seite, so daß sie jetzt beide im Spiegel zu sehen waren. Erik stöhnte auf, doch sie zwang ihn, sich seinem Anblick zu stellen. Dann zog sie sein Gesicht zu sich herunter und bedeckte es mit zärtlichen federleichten Küssen, bevor sie die Arme um seinen Hals schlang und seine Lippen suchte. Sekundenlang wagte er nicht, sich zu rühren. Dann verstand er. Das Echo der Musik der Nacht schien im Raum zu schweben, als das Phantom der Oper zum ersten Mal in seinem Leben eine Frau in seine Arme schloß.
Epilog:
Es wäre vermessen zu behaupten, man habe nie wieder etwas von Christine Daae gehört. Von Zeit zu Zeit beschwerte sich beispielsweise eines der neu eingestellten Chormädchen, sie könne nachts nicht schlafen, weil der Gesang einer zauberhaften weiblichen Stimme aus den Tiefen der Gewölbe zu ihr hinauf gedrungen sei. Auch der Nachtwächter, der in der Nähe der Bühne seine Runde machte, behauptete, zuweilen den Saum eines weißen Spitzenkleides in Richtung der Treppe verschwinden zu sehen. Und bei Galapremieren vernahm man des öfteren aus Loge 5 vertrautes Geflüster und das zärtliche Auflachen einer samtdunklen Männerstimme.